Historische Aufarbeitung

AG Historische Aufarbeitung durch den Verein Heim-statt Tschernobyl

Seit Anfang 2001 arbeiten Mitglieder der Hilfsorganisation Heim-statt Tschernobyl die Ereignisse und Folgen aus dem I. und II. Weltkrieg für den Bereich der Narotsch-Region und den Bezirk um Lepel in Belarus auf.

Ausgangslage waren verschiedene Funde bei den Bauarbeiten im neuen Dorf Drushnaja am Narotsch-See. Dieses Dorf befindet sich auf der alten Kampfeslinie des I. Weltkrieges. Das damit verbundene Geschehen mit über 100.000 Kriegstoten ist unter dem Begriff „Die Märzoffensive 1916 am Narotsch-See“ bekannt und beschrieben. Die deutsche Heeresleitung setzte erstmals in der Kriegsgeschichte Giftgas ein. In dem neuen Dorf ist eine kleine Sammlung zusammengestellt worden, die die Kriegsereignisse dokumentiert. Ebenfalls liegt eine Dokumentation über die Kriegsgräber der näheren Umgebung vor.

Kontakte und Gespräche mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der umliegenden Dörfer machten auf die Geschehnisse des II. Weltkrieges – Zerstörung der Dörfer, Partisanenkämpfe sowie Zwangsarbeit – aufmerksam. Das wird u.a. in dem von Ulrike Jaeger herausgegebene Buch „Die vergessenen Frauen vom Narotschsee“, beschrieben. Im Jahre 2004 erhielten wir neue Informationen am Beispiel des Dorfes Kabylnik, dass in der Region um den Narotsch-See 5 jüdische Dörfer mit insgesamt 1.743 Menschen, davon 710 Kinder, vernichtet wurden.

Bei der Spurensuche kommt auch immer mehr die Tatsache in den Blick, dass diese Region nach dem Rigaer Vertrag von 1921 bis 1939 zum polnischen Staat gehörte und gerade die dort lebende polnische Bevölkerung beim Überfall und Einmarsch der deutschen Wehrmacht Sympathien für diese zeigten. Das wirkte auch noch weiter im Gegensatz zwischen der Armija Krajowa – der polnischen Heimatarmee – und der sowjetischen Partisanenbewegung. Marodierende Gruppen hatten – noch nach der Befreiung Belarus´ von der Naziherrschaft am 3. Juli 1944 – in dem Westteil Belarus bis in die 50er Jahre weiter Bedeutung.

Die Ereignisse des II. Weltkrieges kommen nun seit Sommer 2002 verstärkt in den Interviews mit belarussischen Veteranen als Zeitzeugen in unser Blickfeld. Darüber sind für die Jahre 2003 und 2004 zwischenzeitlich Dokumentationen verfasst worden.

Das hängt damit zusammen, dass seit 2001 in Stari-Lepel ein neues Umsiedlerdorf im Entstehen ist. Lepel gehörte seit 1921 zur belarussischen sowjetischen Republik und wurde gleich nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht okkupiert. In dessen Folge entstand die Partisanenzone Uschatschi. Diese umfasste den Raum Polozk – Lepel südwestlich von Vitebsk. Nach neueren historischen Erkenntnissen ist der Begriff „Partisanenrepublik Belarus“ insgesamt nicht zu halten, da es, wie bereits angedeutet, zu vielen ethnischen Gegensätzen mit unterschiedlichen Zielen gekommen ist. Zu erwähnen sei auch, dass es gerade auch jüdischen Partisanen – Gettoflüchtlingen – schwer gelang, in die gesamte Partisanenbewegung integriert zu werden. Für Uschatschi aber ist nach unseren Nachforschungen der Begriff „Partisanenrepublik“ gerechtfertigt.

In Lepel errichteten die Deutschen am 3. 7. 1941 ein Getto. Bei dessen Liquidierung ab 28. 2. 1942 durch die Okkupanten wurden u. a. 465 jüdische Kinder, Erwachsene und alte Menschen 8 km südlich von Lepel in dem Dorf Tschernorutschie umgebracht. Insgesamt sind dort 2.000 Juden aus dem Bezirk getötet worden.
So haben sich unsere Recherchen zwischenzeitlich nahezu auf alle belarussischen Opfergruppen ausgeweitet. Es sind die Dorfbewohner während der Kriegszeit,es sind die Rotarmisten und Partisanen. Es handelt sich um die Ghetto- und KZ-Überlebenden und um die Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiterinen und Zwangsarbeiter.
Am 22.6.1944, drei Jahre nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Völker der Sowjetunion, begann die Rote Armee die Gegenoffensive mit 4 Divisionen über die Linie Polozk, Vitebsk, Orscha, Mogilev, Bobruisk. Dieses hatte den Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte zur Folge. Von den 300.000 Wehrmachtsangehörigen überlebten nur 50.000 Soldaten. So ist seit 2004 zu unserer Spurensuche hinzugekommen, dass wir bei der Identifizierung deutscher Kriegstoten vermitteln können, alles unter Kooperation mit dem Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge.
Aber – das ergab auch unsere Spurensuche – wir stießen auch auf die Folgen der stalinistischen Säuberungen in den späten 30er Jahren, die ihre Vorläufer bereits in der Zwangskollektivierung und dem Religionsverbot hatten, die die östliche sozialistische Republik Belarus betrafen.

2004 nahm Minsk einen breiteren Raum unserer Untersuchungen ein, das bezog sich insbesondere auf das ehemalige Getto, in das auch viele Juden aus Deutschland verschleppt wurden. Die Aufgabe dieses Gettos bestand in der Vernichtung der Juden. Es vollzog sich in dem Vernichtungslager Trostenez (mit 2 Nebenlagern). Trostenez mit seinen 206.500 Opfern ist nach Auschwitz, Treblinka und Maidanek das viertgrößte Vernichtungslager überhaupt gewesen.
Bei Minsk kamen wir insbesondere auch auf die Spuren der stalinistischen Vernichtungslager -und dafür steht der Name Kurapaty; offiziell sind dort 30.000 Opfer angegeben, man vermutet, dass es 600.000 und mehr sein könnten.

Den neueren historischen Erkenntnissen bezüglich einer Kriegsgesellschaft in Belarus während des II. Weltkrieges gingen wir insbesondere während der Spurensuche und Zeitzeugeninterviews der Jahre 2003 und 2004 nach. Dazu Fragen nach der jüdischen Welt in Belarus bis zum Holocaust sowie nach der Bedeutung der belarussischen Territorien während der Polnischen Republik 1921 -1939 und eben auch nach der Phase der stalinistischen Säuberungen (darüber mehr in der Homepage www.ruessmeyer.de unter Seniorenbildung Nr. 0062 Spurensuche und Zeitzeugenbefragung 2003 und 0063 für 2004).

Nach den neueren Untersuchungen „Handbuch der Geschichte von Belarus“ ergibt die Opferzahl für die Bevölkerung von Belarus 3,4 Mio. Menschen während des Zweiten Weltkrieges, die auf den von Deutschland verursachten und zu verantwortenden Krieg zurückgehen. Dazu gehören etwa 650.000 jüdische Opfer, 1,4 Mio. nichtjüdische Zivilisten, 800.000 gefallene Rotarmisten und 350.000 in deutscher Gefangenschaft Verstorbene. Die Verluste bei den Partisanen belaufen sich auf etwa 100.000. Von den 380.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern kehrte ein Großteil nicht zurück.
Hinzu kommen aber auch noch insgesamt 3,6 Mio. belarussische Opfer während der sowjetischen Periode.

Bei unseren Recherchen stellten wir fest, dass die Rückkehr von Zwangsarbeitern, KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen nach Belarus nicht so reibungslos verlief. Kriegsgefangene wurden nach einem Befehl Stalins vom 16. 8. 1941 als Deserteure und Vaterlandsverräter verstanden. Über Filtrationslager der Staatssicherheitsorgane kam es z.T. zu erneuter Verurteilung in die GULags. Diese Menschen wurden Opfer zweier Diktaturen. Ihre schlimmen Schicksale werden nach einem Vertrag vom 29.04.2002 zwischen der Stiftung Sächsische Gedenkstätten und dem Archivdienst des Komitees für Staatssicherheit der Republik Belarus aufgearbeitet. Eine erste Dokumentation unter dem Titel „Für die Lebenden – der Toten gedenken“ wurde 2003 herausgegeben.

Unsere AG verfügt zwischenzeitlich über mehr als 50 Dokumente, Bücher, Exzerpte von Quellenstudium, Textentwürfen und Dokumentationen als Bestandteil der Aufarbeitung. Wir stehen sowohl in Belarus als auch in Deutschland im Kontakt mit Historikern, um somit unsere Ergebnisse auch auf wissenschaftlichem Hintergrund zu überprüfen; andererseits sind uns die Ergebnisse der Historiker auch hilfreich bei unserer Spurensuche.
Gerade in diesen Wochen und Monaten um den 8. Mai 2005 stellten wir vielfach unsere Ergebnisse vor und hoffen mit unseren belarussischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, dass der Mensch aus der Geschichte lernt. Ihre und unsere Hoffnung bezieht sich auf einen dauerhaften Frieden!